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Ratgeber - Kastration

Inhaltsverzeichnis

Kastration ist kein Ersatz für Erziehung

Viele Halter lassen ihren Hund kastrieren, weil sie sich eine Verbesserung von Verhaltensproblemen erhoffen. Doch leider ist noch wenig bekannt, dass die Problematik sich dadurch noch verschärfen kann. Der Verhaltensbiologe Dr. Udo Gansloßer erläuterte in einem Fachvortrag das Für und Wider der Kastration

Häufige Vorurteile

Als häufiges Argument für die Pauschalkastration wird angeführt, dass es für Hunde ein permanenter Stress ist, wenn sie sich nicht sexuell betätigen dürfen. Wie Statistiken von verwilderten Straßenhunden zeigen, gibt es in der Regel in einem Rudel fünf bis sechs Rüden und zwei bis drei Hündinnen, trotzdem sind meist nur ein Rüde und höchstens ein bis zwei Hündinnen sexuell aktiv. Es ist daher ein völlig normales Geschehen, dass 70 bis 80 Prozent der Rüden und gut zwei Drittel der Hündinnen nicht zur Fortpflanzung kommen. Ein medizinischer Grund, der immer wieder für die Kastration ins Feld geführt wird, sind Statistiken, die von einem um 80 Prozent niedrigeren Gesäugetumor-Risiko sprechen, wenn vor der ersten Läufigkeit kastriert wird. „Betrachtet man jedoch Hündinnen aller Altersklassen, liegt das Risiko für solche Tumore unter zwei Prozent“, erklärt Dr. Udo Gansloßer. „Eindeutig belegt ist jedoch, dass es ganz andere Risikofaktoren gibt, die bei der Hündin wirklich den Gesäugetumor auslösen, egal ob sie kastriert wurde oder nicht. Nämlich zu energie- und proteinreiches Futter oder Fettleibigkeit im ersten Lebensjahr und das mehrfache Wegspritzen der Läufigkeit.“

Die Kastration ist der am häufigsten durchgeführte chirurgische Eingriff in deutschen Tierarztpraxen. Der häufigste Grund dafür ist jedoch nicht in medizinischen Ursachen zu suchen, sondern, wie eine Befragung von Hundehaltern im Rahmen der Bielefelder „Kastrationsstudie“ zeigte, in unerwünschtem Verhalten (74 %). Auch Argumente wie das Zusammenleben von Rüde und Hündin in einem Haushalt (30 %) spielten eine größere Rolle als medizinische Gründe. Diese waren nur für 21 % der Halter wichtig (Mehrfachnennungen möglich).

Doch das gewünschte Ziel wird nur selten erreicht, wie neue Erkenntnisse der Verhaltensbiologie beweisen. „Wer glaubt, durch Kastration Verhaltensprobleme einfach chirurgisch wegschneiden zu können, liegt falsch. Ganz viele Leute müssen hinterher feststellen, dass sich nichts geändert hat oder das Problem sogar schlimmer geworden ist“, erklärt Dr. Udo Gansloßer.

Der Grund dafür ist, dass viele Verhaltensweisen, die scheinbar mit der Fortpflanzung und der Pubertät des Hundes in Zusammenhang stehen, in Wirklichkeit einen ganz anderen verhaltensbiologischen Hintergrund haben. Das trifft zum Beispiel für unerwünschte Verhaltensweisen wie Revierverteidigung, Bellanfälle oder Eifersucht zu. Auch bei Aufreit- und Paarungsverhalten, das nicht sexuell bedingt ist, sondern aus einem fehlgeleiteten Besitzanspruch oder einer Bewegungsstereotopie zum Stressabbau resultiert, führt Kastration nicht zum Erfolg.

Eine oft genannte Begründung für die Kastration ist aggressives Verhalten. Aggression ist jedoch nicht gleich Aggression. Bei der häufig vorkommenden Angstaggression kann das Verhalten sogar noch verstärkt werden, weil die Sexualhormone im Gehirn eine positive Nebenwirkung auslösen und die Angst vermindern. Um die weitreichenden Folgen der Kastration auf das Verhalten zu verstehen, ist es daher wichtig, ein paar Informationen über die wichtigsten Hormone und ihre Wirkungsweisen zu haben.

So wirken Hormone

Hormone sind Botenstoffe, die über den Blutkreislauf verschickt werden. Das heißt, sie kommen überall im Körper an. Damit sie trotzdem an einer bestimmten Stelle wirksam werden, haben die meisten Hormone sogenannte Rezeptoren, Bindungsstellen, mit denen sie sich verknüpfen und dadurch die erwünschten Wirkungen auslösen. An anderen Stellen können sie jedoch zu Nebenwirkungen führen, die nicht geplant waren. So ist eine Stressreaktion zum Beispiel biologisch sinnvoll, weil sie den Körper auf bestehende oder zu erwartende Gefahren vorbereitet. Dauert der Stress aber zu lang, können sich die vom Körper selbst produzierten Hormone negativ auswirken. Schuld daran ist ein kompliziertes Regelkreissystem im Hormonhaushalt. Weil sie mit dem Blut verschickt werden, kommen die Hormone dort wieder an, wo sie losgeschickt wurden und dämpfen dann ihre eigene Wirkung. Diese Rückkoppelungsschleifen können sich so aufschaukeln, dass sie das System zum Absturz bringen und dem Körper schaden. Je nachdem, ob ein Hormon wasser- oder fettlöslich ist, beeinflusst das die Wirkungsweise.
Wasserlöslich ist zum Beispiel Adrenalin, eines der Haupthormone im Stressbereich. Das so genannte Fluchthormon wirkt ziemlich schnell, genauso schnell lässt die Wirkung aber nach, wenn die Gefahr vorbei ist. Sexualhormone sind fettlöslich, ihre Wirkung tritt zeitlich verzögert ein. Es dauert vier oder fünf Minuten, bis man die erste Wirkung erkennt, der Höhepunkt liegt dann meist nach etwa 20 Minuten.

Eine große Rolle spielt neben der direkten Wirkung von Hormonen die sogenannte bahnende Wirkung. Aufgrund hormoneller Einflüsse, die teilweise bereits im Mutterleib passieren, reicht später der visuelle Reiz aus, um dieses Verhalten zu aktivieren. So wird durch die bahnende Wirkung von Testosteron im Gehirn des Embryos unter anderem schon die Pinkelposition oder das Revierverhalten festgelegt.
Später ist dann eine Stange oder ein Baum der Auslöser für dieses Verhalten. Ein Hund, der generell streunt, wird durch Kastration daher auch nicht plötzlich häuslich. Aufgrund solcher bahnenden Verbindungen können Rüden auch Jahre nach der Kastration Paarungsverhalten bis hin zum Aufreiten zeigen, wenn ihnen eine läufige Hündin begegnet. Denn dieser Bewegungsablauf wurde durch die Verknüpfung im Gehirn so fixiert, dass es fast keine Testosteronproduktion mehr braucht, um ihn auszulösen. Es reichen die geringen Mengen aus der Nebenniere.

Körperliche Folgen der Kastration

Kastration bedeutet beim Rüden und der Hündin die Entfernung der Geschlechtsorgane, also der Hoden beziehungsweise der Eierstöcke. Da dies die wichtigsten Drüsen für die Produktion von Sexualhormonen sind, ändern sich damit auch das Verhalten, der Stoffwechsel und andere Eigenschaften des Hundes.

„Ist eine Kastration aus medizinischen oder verhaltenstherapeutischen Gründen sinnvoll oder hat man den Hund kastriert übernommen, muss daher eine informierte Nachsorge durch den Besitzer erfolgen“, erklärt Dr. Udo Gansloßer.

Maßnahmen nach der Kastration

Durch die Kastration wird ein Hund schlagartig zum Senior. Die Bemuskelung der Knochen geht zurück, das Bindegewebe wird schlaffer, das Fell verändert sich. Er braucht weniger Kohlenhydrate, weil sich der Stoffwechsel reduziert, und hat einen erhöhten Bedarf an leicht verdaulichen biologisch hochwertigen Proteinen, um den Muskelaufbau anzukurbeln. So wie der Mensch in den Wechseljahren etwas gegen Osteoporose tun muss, sollte man vor allem bei der Hündin frühzeitig auf den erhöhten Mineralbedarf zur Vorbeugung achten.
Ist der Hund stressanfällig, verschärft die muskelabbauennde Wirkung von Cortisol die Problematik noch. Wichtig ist daher Muskelaufbau durch gezielte Physiotherapie wie Schwimmen, Unterwasserlaufband oder Wackelbrett vor allem bei großen, schweren und erblich vorbelasteten Rassen sowie Individuen, die ohnehin Gelenkprobleme haben. Auch Sportarten wie Zielobjektsuche in schwierigem Gelände fördern den Muskelaufbau.
Beim Verhaltenstraining kommt es auf den Typ an. „Handelt es sich um einen Hund, der von Cortisol geprägt ist, muss vor allem Persönlichkeitsaufbau betrieben werden. Solche Hunde müssen durch Teamarbeit über soziale Unterstützung Selbstbewusstsein aufbauen.
Dem hyperaktiven, eher adrenalingesteuerten Typ müssen hingegen sehr konsequent Grenzen gesetzt und Sozialkompetenz aufgebaut werden. Denn nur durch die Kastration allein wird sich das Verhalten, das er sich über Monate oder Jahre angewöhnt hat, nicht ändern. In dem Fall ist die Kastration zwar eine hilfreiche Voraussetzung, aber keine Garantie für die Verhaltensänderung“, führt Dr. Gansloßer aus.

Frühkastration und ihre Folge

Besonders problematisch ist es, wenn die Kastration vor dem Höhepunkt der Pubertät durchgeführt wird. „Frühkastrationen führen nach allen einschlägigen Erfahrungen zu chaotisch-unsicheren, meist lebenslang kindsköpfischen Hunden, die auch in Bezug auf ihre geistige Leistungsfähigkeit nicht voll ausgereift sind. Das hat mit der Entwicklung des Gehirns zu tun. Denn unter dem Einfluss des Sexual- hormonanstiegs in der Pubertät werden nochmals Nervenverknüpfungen und Zellverbindungen hergestellt und überflüssige Zellareale abgebaut“, erklärt der Experte.
Gerade bei großen Rassen birgt die Frühkastration ein weiteres Problem. Das Schließen der Wachstumsfugen erfolgt in der Pubertät durch einen Sexualhormonschub. Entfällt dieser, schießen die Hunde in die Höhe und entwickeln eine ungünstige Biomechanik. Verschärft wird das Problem noch durch ein schwaches Bindegewebe und Muskulatur.

"Probelauf" mit chemischer Kastration

Um ein genaues Bild davon zu bekommen, wie sich der Rüde nach der Kastration aus verhaltenstherapeutischer Sicht entwickelt, empfiehlt Dr. Gansloßer vorher eine Art „Probelauf“ mit chemischer Kastration. Dabei pflanzt der Tierarzt ein kleines Implantat unter die Haut, dessen Wirkstoff die Ausschüttung von Sexualhormonen über mehrere Monate verhindert. Allerdings ist die sogenannte GnRHDown-Regulation bisher nur beim Rüden möglich. Obwohl sie bei Wildcaniden schon lange problemlos eingesetzt wird, gibt es für Haushündinnen derzeit noch keine Zulassung. Sie ist aber zu erwarten.
Da in den ersten Wochen nach der Implantation die Testosteronproduktion sehr stark angekurbelt wird, kann der Rüde in dieser Zeit etwas verrückt spielen und braucht daher einen souveränen Führer an seiner Seite. Danach zeigt sich aber genau das Verhalten, das auch nach einer echten Kastration eintreten würde.

Amputationsverbot laut Gesetz

Nicht vergessen darf man auch, dass eine Kastration ohne veterinärmedizinische oder verhaltenstherapeutische Indikation gegen das Tierschutzgesetz verstößt. Der Paragraph 6, das sogenannte Amputationsverbot, verbietet, einem Tier Organe einfach wegzuschneiden. Gemäß dem Tierschutzbericht der Bundesregierung von 1999 können in ordentlichen Familienverhältnissen lebende Hunde auch mit anderen, weniger invasiven Methoden an der Fortpflanzung gehindert werden. Daher sind auch Verträge (zum Beispiel Übernahmeverträge von Tierschutzvereinen), in denen die Kastration gefordert wird, rechtswidrig und damit nichtig.

Weder Pro noch Contra

Die Entscheidung, ob man seinen Hund kastrieren lässt, sollte auf jeden Fall gründlich überdacht werden. „Es gibt kein generelles Ja oder Nein, sondern nur ein ganz entschiedenes Vielleicht“, meint Dr. Udo Gansloßer. „Meiner Erfahrung nach sollte sowohl aus tiermedizinischer als auch aus Trainersicht eine ganz differenzierte Einzelfallabschätzung erfolgen, die den individuellen Hund und das individuelle Mensch-Hund-Team mit berücksichtigt, bevor man etwas rausschneidet, was man dann nicht mehr einbauen kann.

Die wichtigsten Hormone und ihre Auswirkungen

Testosteron

Rüde:
Testosteron ist das wichtigste Sexualhormon des Rüden. Es sorgt für männliches Aussehen und bestimmt das männliche Sexualverhalten. Es wird vor allem in den Hoden produziert, in kleinen Mengen auch in der Nebennierenrinde. Daneben beeinflusst Testosteron den Knochen- und Muskelaufbau. In der Pubertät ist es verantwortlich für die Schließung der Wachstumsfugen in den Röhrenknochen. Außerdem spielt Testosteron eine wichtige Rolle bei der geruchlichen Kommunikation.

Hündin:
In geringen Mengen entsteht Testosteron in den Eierstöcken und der Nebennierenrinde auch bei der Hündin. Kommt es in größeren Mengen vor, wirken diese Hündinnen in Knochenbau und Bemuskelung sehr männlich.

Östrogene

Rüde:
In niedriger Konzentration vorhanden. Es ist jedoch unklar, ob sie im Hoden oder Fettgewebe gebildet werden.

Hündin:
Sie sind die wichtigsten weiblichen Sexualhormone und werden je nach Zyklusstand in unterschiedlicher Konzentration vor allem in den Eierstöcken produziert, in geringer Menge auch in der Nebennierenrinde. Besonders viele Östrogene werden im sogenannten Östrus ausgeschüttet, also der Phase, in der die Hündin paarungsbereit ist. Sie dauert in der Regel ein bis zwei Tage, kann aber je nach Rasse und Individuum bis zu zehn Tagen gehen. Die Östrogene lösen weibliches Werbeverhalten aus. Die Hündin sucht gezielt den Kontakt zu Rüden, spielt mit ihnen und präsentiert ihr Hinterteil.

Progesteron

Rüde:
wird nicht produziert

Hündin:
Nach der Läufigkeit kommt jede Hündin durch das Schwangerschaftshormon Progesteron in den Zustand der Scheinträchtigkeit, egal ob sie gedeckt wurde oder nicht. Das ist ganz normal und soll sie darauf vorbereiten, sich um ihre Welpen zu kümmern oder in Hunderudeln auch um die der anderen Rudelgenossinnen. Die Progesteronphase dauert etwa zwei Monate und geht fließend in die Prolaktinphase über. Die meisten Hündinnen werden in dieser Zeit lediglich etwas ruhiger, anlehnungs- und nähebedürftiger. Treten je doch massive Stimmungsstörungen auf, die sich in regelrechter Depression oder überzogener Aggression äußern, sollte man eine Kastration erwägen.

Prolaktin

Rüde:
Auch als „Elternhormon“ bezeichnet. Es ist für die Entwicklung elterlicher Gefühle und die Verteidigung der Jungtiere bei Hündinnen und Rüden verantwortlich. Beim Rüden wird die Produktion durch die Läufigkeit der Hündin angeregt.

Hündin:
Nach der Scheinträchtigkeit wird durch das Prolaktin die Phase der Scheinmutterschaft ausgelöst. Das Gesäuge vergrößert sich bis hin zur Milchproduktion. Die Hündin hütet Quietschtiere oder gräbt Wurfhöhlen. Da Prolaktin in der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) gebildet wird, hat die Kastration keine Auswirkung auf dieses Hormon. Auch kastrierte Hündinnen können in diesen Zustand kommen, zum Beispiel, weil die Besitzerin schwanger ist oder ein neuer Welpe ins Haus kommt.

Oxytocin und Vasopressin

Rüde:
Das sogenannte Bindungshormon Oxytocin sorgt bei Rüde und Hündin für das liebevolle Umgehen zwischen den Geschlechtspartnern.

Hündin:
Bei der Hündin löst es außerdem die Wehen aus und leitet die Geburt ein. Außerdem sorgt es dafür, dass die Milch einschießt und die Hündin eine Bindung zu den Welpen entwickelt. Oxytocin steht in enger Verbindung mit dem Partnerschutz- und Eifersuchtshormon Vasopressin. Dieses Hormon ist für einige unerwünschte Verhaltensweisen verantwortlich, zum Beispiel, dass der Bindungspartner gegen vermeintliche oder wirkliche Bedrohungen verteidigt wird. Da kein Zusammenhang mit den Sexualhormonen besteht, bringt Kastration keinen Erfolg.

Cortisol

Rüde:
Das als Stresshormon bekannte Cortisol entsteht in der Nebennierenrinde und ist für eine Reihe unangenehmer Verhaltenszustände verantwortlich wie Panik, Angstagression und Depression. Ein Hund, der sich in einem gewissen Stress befindet, aktiviert über die Nebenniere außerdem das Sexualhormon Testosteron. Da dieses die Ausschüttung von Cortisol hemmt, sind angstgesteuerte Hunde, wenn sie unkastriert sind, weniger stressanfällig. Fällt nach der Kastration die angstlösende Wirkung des Testosteron weg, werden sie noch unsicherer, und das gezeigte ängstliche Verhalten wird verschlimmert.

Hündin:
Da sie sowohl Cortisol als auch in geringem Umfang Testosteron produziert, gilt dasselbe wie beim Rüden.

Quelle: DRC CZ.5/2011